Zum Umbau der Kirche St. Martin

St. Martin - EntwurfEine Kirchenerweiterung bedeutet, sich mit einem spirituellen Ort und seiner historischen Präsenz in der Stadt auseinanderzusetzen. Die Architektur des neuen Zubaus in ihrem Bezug zur barocken Bausubstanz versucht diesen Ort der Gemeinschaft zu respektieren, im Bewusstsein, dass die Veränderung des Bestehenden einen gravierenden Eingriff in die Geschichte dieses Ortes darstellt, dass eine Störung aber auch die Chance zum Aufbruch und einen neuen Anfang meinen kann. Alt und Neu, Historisches und Gegenwärtiges treten in einen Dialog, der unser Leben als einen Weg in eine unbekannte Zukunft beschreibt.

Der alte Kirchenbau kann als Symbol dafür gedeutet werden, dass früher das öffentliche Leben ebenso wie auch die Architektur stark von der Ordnung der Kirche geprägt wurden. Heute ist diese Ordnung in unserer pluralistischen Gesellschaft ebenso wie in der Architektur längst verloren gegangen. Dennoch soll das Haus einer Gemeinde noch immer ein Ort des Innehalten, des Nachdenkens und des Gebetes sein, in dem Vergangenes mit Zukünftigem in Beziehung tritt, und der Raum vor allem der Liturgie, als einem Moment des Bleibenden, dient. Ein Ort der Stille im Lärm eines rasch wachsenden Stadtteils an der Peripherie einer Metropole.

Mit der Erweiterung der Kirche zum hl. Martin wird dem alten Kirchenraum ein geometrisch präziser Baukörper zur Seite gestellt, der sich aber eindeutig den charakteristischen Merkmalen der barocken Raumwirkung unterordnet. Durch eine zurückhaltende und trotzdem großzügige Einfachheit des Raumes und durch schlichte Gestaltung seiner architektonischen Details soll der historischen Architektur keine laute Konkurrenz erwachsen.

St. Martin - EntwurfDer kreisförmige Altar ist in das erste Joch des Schiffes gerückt. Durch die dreiachsige Öffnung der Westwand, in die zwei massive Betonsäulen gestellt wurden, öffnet sich der einschiffige Kirchenraum zum neuen Anbau. Bogenförmig umfängt eine weiße Wandschale den Raum. Mittel- und Brennpunkt für diese dynamische Bewegungslinie ist der Altar, sodass man im Grundrissbild symbolisch die Figur eines Menschen ablesen kann, der seinen Mantel ausbreitet und damit auf den Namenspatron der Kirche verweist.

Ein wesentliches Element des Entwurfes ist die Lichtführung im Innenraum. Licht und Schatten als Symbol Air das Leben und den Tod bestimmen die Raumwirkung. Der neue Raum ist vom alten durch einen dreiseitigen Lichtschlitz abgerückt. Das Wechselspiel von Hell und Dunkel prägt den Bau in all seinen Teilen. Zwölf quadratische und schlitzförmige Öffnungen in der freistehenden Sichtbetonscheibe geben den Blick in das Grün des Gartens in Form von kleinen Bild- ausschnitten frei. Die von blauem Glas dominierten Fenster symbolisieren das Licht des Himmels.

Den schweren Gurtbögen und Gewölben des Altbaus entsprechen im Neubau Doppelträger aus Stahl und die leichten, abgehängten Deckenkappen in den Zwischenfeldern. Die Träger berühren die Wände nicht, sondern die Last des Daches wird mittels differenzierter Konsolen abgeleitet: in die neue Wand mit kubischen Betonquadern, in die alte Kirchenwand mittels filigraner geschraubter Stahlkonsolen. Dem massiven Ziegel- und Bruchsteinmauerwerk sind schwere, freistehende Betonmauern entgegengesetzt. Und wiederum wird quasi kontrapunktisch auf die alten, aus dunklem Eichenholz gefertigten Bänke mit hellem Ahorngestühl geantwortet. Glas, Stahl, Sichtbeton und helles Holz sind die Materialien, die den Dialog zwischen Alt und Neu prägen.

Die in ihrer Gesamtheit markante Veränderung und räumlich großzügige Erweiterung dieser Kirche versucht das Weiterbauen an der historischen Substanz als einen dialogischen Prozess aufzufassen. Differenzierte Proportionen und unterschiedliche Materialien schaffen einen Gesamtraum, in dem sich Einheitliches ebenso wie Gegensätzliches gegenübersteht. So scheint auch die Architektur für diesen besonderen sakralen Ort ähnlich fragmentarisch zu sein wie unsere gesamte menschliche Existenz.

Architekt Franz Claudius Demblin